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Sprechblätter 01/25


Über das Vorausträumen von Zukünften
Interview der Initiative DAS SPRECH mit den Akteur:innen der Leseperformance
TRAUMBILDER EINES GRÖNLANDWALS (15.02.2025)


Evelyn Blumenau und Walter Kreuz (Künstlerduo gecko art) starteten im Frühjahr 2024 mit dem Projekt "Traumbilder eines Grönlandwals" - oder besser gesagt - mit einer Projektreihe, die sich aus drei Modulen zusammensetzt. Diese sind eine szenischen Lese-Performance, ein handgeschriebenes Kunstbuch und ein Paket explorativer Outdoor-Aktionen zum Thema Wahrnehmung. Im Mittelpunkt steht immer der Grönlandwal in Form seiner von Walter Kreuz erfundenen Unterart "KEDUBE", die mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet ist und die nichts Geringeres als eine mögliche Zukunft der Menschheit erträumt. Dabei sind nicht technoide Aspekte im Fokus, es geht nicht um ein "MEHR" in immer kürzerer Zeit, nicht um grenzenlose Verfügbarkeiten, sondern schlicht (und frech!) um Reduktion, um Bremsung von nicht mehr überschaubaren Prozessen. Und es geht vor allem um eine neue (und zugleich uralte) Rolle von Kunst und ihren Möglichkeiten, schöpferische, zwischenmenschliche Handlungen zu erschaffen.

Lesen im Kunstbuch CODEX KEDUBE

Das gecko art-Team wagt dabei Neuansätze, als hätte es Theaterhäuser, Konzertsäle oder Kunstmuseen mit ihren mitunter festgefahrenen Ritualen niemals gegeben. Das Ausschließen vieler Bevölkerungsteile wird hinterfragt. Denn alles, was in den "Traumbildern eines Grönlandwals" vor sich geht, sind Handlungen für den öffentlichen Raum. Es ist ein "IMMER" und "ÜBERALL", was auf den ersten Blick, auf den ersten Horch verstört, weil mit allen Erwartungshaltungen schon im Vorfeld gebrochen wird. Vielleicht wird die Einfachheit der folgenden Interviewfragen den künstlerischen Kreisen nicht gerecht, die der gecko art'sche Grönlandwal zieht, trotzden möchten wir eine Ortung vornehmen. Unsere Fragen-Echolote sind bereits in Position:

***

Was träumt ein Säugetier,
das über 200 Jahre leben kann?


EVELYN BLUMENAU: Ich denke, darauf gibt es viele Antworten. Unter ihnen wären gewiss auch einige, die literarisch, performativ und spekulativ sind. Für mich als Schauspielerin tanzen sofort verschiedene Bilder vor meinem geistigen Auge. Schon beim ersten Lesen des Skripts spürte ich, dass darin Text- und Klangstücke enthalten sind, die im wahrsten Sinn des Wortes nach Inszenierung rufen! Und eben diese Traumbilder sollte man hören und auch sehen können. Es wäre die Suche nach einer Zukunft abseits von Dystopien. Einer Zukunft, die kein Schreckensszenario ist und auch keine schönfärberische Konzepte hervorbringt. Hoch lebe der Perspektivwechsel! In diesem Zusammenhang drängt sich eine entscheidende Frage auf: Wo liegen die schöpferischen Komponenten, die einer möglichen Zukunft innewohnen?

Und warum wird ausgerechnet
der Grönlandwal zur „Hauptrolle“ im Text?


WALTER KREUZ: Für mich ging von dieser Langlebe-Form immer schon eine Faszination aus, die mich motivierte, der Erdgeschichte eine Fiktion hinzuzufügen – und dies zunächst in Form eines handgeschriebenen Buchs. So entstand KEDUBE, meine erfundene Unterart des Grönlandwals. Ich stelle die Behauptung auf, dass ein Wesen mit extrem hoher Lebenserwartung eine spezielle Form von Bewusstsein erlangt. In meiner Erzählung kann dieses Wesen „menschliches schöpferisches Wummern“ aus der Zukunft empfangen und in filmartige Bilder umwandeln.

Und wovon handeln
diese Bilder zum Beispiel?


EVELYN BLUMENAU: In der Lese-Performance umkreisen wir viele Themenbereiche, die auf den ersten Blick vielleicht ungewöhnlich erscheinen. Beim Zuhören jedoch wirken sie erstaunlich vertraut: So bringen wir rhythmische Chöre, in denen wir Kunstaktionen an jeder Straßenecke einfordern. Oder wir treten für den Transport von Gütern ein - allerdings als bewusst inszeniertes Theaterprojekt. In einem der Bilder machen wir uns auf die Suche nach dem Ur-Laub. Eine Suche, die viel mit Sehnsucht zu tun hat und etwas Erstaunlicheres offenbart als bloß Jahr für Jahr in den Urlaub fahren zu müssen.

Evelyn Blumenau erzählt
E.Blumenau: "So bringen wir rhythmische Chöre, in denen wir Kunstaktionen an jeder Straßenecke einfordern." (Foto: Georg Oberweger)


Das klingt nach einem dichten Programm.
Wie tut man sich da bei der Umsetzung?


EVELYN BLUMENAU: Manchmal denke ich, dass das Gesamtprojekt größer ist als ich selbst es bin oder überhaupt sein kann. Damit meine ich sowohl die Komplexität der Gedankenwelten, die W. Kreuz im CODEX KEDUBE anspricht wie auch die Gefühle, die wir bei unserer Performance durchleben. Aber eigentlich macht genau das den Reiz aus! Unser Planet ist komplex, alle Überlegungen zu Zukunft sind es ebenso. Und was uns besonders am Herzen liegt: Die Performance und das Buch sind ein Plädoyer für SUFFIZIENZ, für das Bewusstwerden des eigentlich Notwendigen und des gerade einmal Ausreichenden.

Suffizienz - ist dies allen Traumbildern gemeinsam?
Was wollt ihr damit mitteilen?


WALTER KREUZ: Als der Text im Frühjahr 2024 entstand, war es, als würde vor meinem geistigen Auge ein Film ablaufen, den ich nur abzuschreiben hätte. Ohne es zu bemerken, hatte ich mit meinen lyrischen Momentaufnahmen auch über „Suffizienz“ geschrieben. Und ja, letztlich waren es Plädoyers – Plädoyers zur inneren Ruhe, zum Innehalten, zur Selbstreflexion, zur Wahrnehmung der Welt, zur Spiritualität, zur „Sorge um sich selbst“. So wurde das Gesamtprojekt auch für mich größer als ich selbst bin.

Walter Kreuz erzählt
W.Kreuz: "Ohne es zu bemerken, hatte ich mit meinen lyrischen Momentaufnahmen auch über „Suffizienz“ geschrieben." (Foto: Georg Oberweger)


Und was will KEDUBE mitteilen?

WALTER KREUZ: Am Anfang meines Textes vollführt KEDUBE eine Art Freudensprung, denn: „Es gibt etwas zu verkünden!“. Danach durchträumt der Meeressäuger im Halbhirnschlaf seine zehn Traumbilder. Erst am Ende der Erzählung lässt KEDUBE ihre Botschaft verlauten: Auf der Pazifik-insel Rarotonga waren Wale zu „juristischen Personen“ erklärt worden. Tatsächlich wurde ebendies 2024, also im Entstehungsjahr meines Textes, medial bekanntgegeben.

Davor musste noch das Buch entstehen, oder?

WALTER KREUZ: Genau. Das Buch sollte ein Unikat werden. Federschrift, rauhes Papier, Bindfaden, Holz, Acrylfarben, Blattgold, Bindfaden, Bergkristall, Segelleinen und Leim waren die wichtigsten Mittel, um den 86seitigen Text in ein 30x40 cm-Buchformat zu bringen. Im Herstellungsprozess wurden Schrift und Materialien zu „Verbündeten“ der Erzählung. Der Gebrauch der Feder entwickelte dabei mitunter eine Eigendynamik. Es war, als hätte ich das Schreiben von Neuem erlernt, es gab ja keine Korrekturmöglichkeiten, und so sind auch die übermalten Schreibfehler integrale Bestandteile des CODEX KEDUBE.

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Nächste Performance-Termine mit Kunstbuch-Präsentation sind:


DO, 12. Juni 2025, 18.30 Uhr
Bücherei im Bildungszentrum Simmering, Gottschalkgasse 10, 1110 Wien

FR, 04. Juli 2025, 19.00 Uhr
Ideenlandebahn, Aegidigasse 3, 1060 Wien



Das Kunstbuch und die Performance
Das handgeschiebene Kunstbuch CODEX KEDUBE wird bei den Leseperformances "Traumbilder eines Grönlandwals" vorgestellt (Foto links: gecko art / Foto Mitte u. rechts:  Sarah Tasha).

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DAS SPRECH wirft einen Blick in den CODEX KEDUBE und kann feststellen, dass man sich vor Irrtümern - vor "Irr-Strichen" - nicht zu fürchten braucht. Der Geruch des Papiers und seine Rauheit, die Bindung mit Faden und die erfrischend unregelmäßigen Nadelstiche am Buchrücken vermitteln etwas Akkurates, wie es das Kunstbuch als Ganzes darstellt.

Übrigens, bei der Leseperformance verhält es sich ähnlich. Das Geschriebene wird zu gesprochenem Text. So wie jeder Buchstabe, mit Feder auf gewelltes Papier aufgetragen, einzigartig ist, sind es auch die Tonalitäten - allem voran die Stimmen der Akteur:innen. Die Gesänge, die dem Grönlandwal nachempfunden sind sowie das leise im Hintergrund klingende Tonwerk von Evelyn Blumenau sind in einer Art "Tonlupe" zu hören. Sozusagen als Zeitlupe des Mediums Audio und im Wechselspiel mit den textlichen Inszenierungen.

Man hörte, dass sich Zuhörer:innen unterschiedlicher Performance-Aufführungen entschuldigt hätten und dem gecko art-Duo versicherten, dass sie keineswegs eingeschlafen wären. Sie wollten sich ganz einfach mit geschlossenen Augen den Visionen hingeben, die bei den Traumbildern des Grönlandwals aufgepoppt seien. 

Ja, sie muss bestehen können, die nicht-dystopische Möglichkeitsform der Zeit. Der Zukunft entgegenzuschlafen ist vielleicht ein erster Schritt, der entkrampft, der die Angst lindert und tägliche Informationsfluten und Sensationslüste entblößt. Schließlich geht es um Chancen des menschlichen Geistes, die in einem grenzüberschreitenden entspannten Zustand eines "IMMER" und "ÜBERALL" zu Chancen der Zukunft werden. Vielleicht ist genau dies das Geheimnis von Kreativität - die Ruhe vor dem schöpferischen Akt, den die Grönlandwal-Unterart KEDUBE der Menschheit vorausträumt.

Zur Gruppe gecko art: Evelyn Blumenau ist Schauspielerin, Autorin, Komponistin, Vokalistin, Walter Kreuz ist Kunstschaffender, Autor, Audioperformer. Sie gründen 1993 die Künstlergruppe gecko-art und arbeiten an der Schnittstelle Sprache, Literatur, Stimmaufnahme. Sie produzieren Essays, Erzählungen, Audiostücke, Audiofeatures und Audiopodcast-Sammlungen, performen Live-Hörspiele und Lese-Acts. Partizipative und performative Projekte führten das Künstlerteam in unterschiedliche europäische Städte (u.a. nach Frankfurt, Berlin, München, Paris, Warschau, Bukarest und Prag). Für Audiofeatures und Projekte erhielt das gecko art-Team zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen.

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