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LTE 103
EIN JOSEFSTÄDTER GRÄTZLTRAUMvon EVELYN BLUMENAU S 1
Es geschah, als es geschehen sollte. Der Wind blies durch die Gasse, nur dort und exklusiv, wie Gestikulata schon oft festgestellt hatte. Das Pfeifen des WUNDERMANNES erklang aus leeren Wohnungsabschnitten, befüllt mit Stimme und kleinteiligen Arbeiten – wohl die letzten Schritte vor der Fertigstellung subtiler Renovierungsmaßnahmen. Der Wundermann war nahezu täglich zu hören gewesen und erfüllte mit seinem fröhlichen Pfeifen das gesamte Gebäude und die exklusive kleine Gasse. Wie wohlig, seiner Stimme zu lauschen, die just in dem Moment anhob, als GESTIKULATA beginnen wollte, geistig und gestisch zu arbeiten und sich ihren brummigen Besingungsritualen und Zeitlupen-Tanzhumoresken hinzugeben. Just in jenem Moment, als sie es schließlich vorzog, sich stattdessen aus dem Fenster zu beugen und dem unsichtbaren Pfeifgenie zuzuhören. Und es geschah, was so oft geschehen sollte und immer wieder geschehen war. Die kleine GASSE, die sich dem JOSEF zugehörig fühlte, zog Gestikulata aufgrund der ihr eigenen Geräuschkulisse und einem weiteren tonalen Ereignis in den Bann. Sie sah aus dem Fenster, um die Quelle von quietschenden Kinderstimmen und rumpelnden Fahrrädern zu ergründen und erblickte noch flüchtig die radelnde Kindergruppe, bevor diese um die Ecke fuhr. Jene Ecke, die bereits an die stark frequentierte Hauptstraße grenzte und in deren auerspergiensischen Besitz überzugehen schien. Gestikulata seufzte. Obwohl sie die hochmotivierten, radfahrenden kleinen Menschen sympathisch fand, gingen ihre Gedanken doch eher in Richtung der vorbeilärmenden Metallschüsseln, deren übermäßige Präsenz sie bei offenem Fenster immer wieder erschreckte oder aus der Idylle ihrer kleinen Josefsgasse aufweckte. Wie gut traf es sich also, dass just in jenem Moment, da auch das letzte radstrampelnde Kinderbein aus ihrem Blickfeld verschwunden war, ein anderes Ereignis ihr Herz erwärmen sollte. Ihr Blick fiel auf die Fußgängerüberquerung und da waren sie: Sie, die bereits sehnlich erwartet wurden. Endlich waren Sie da, in voller Aktion und begleitet von applaudierendem Publikum, beäugt auch von skeptischen Blicken. Die QUERGEHENDEN überschritten also die gut gefüllte Hauptstraße, tänzelnd und leichtfüßig in kaum wahrnehmbarer minimalistischer Bewegung. Sieben waren es, die sich eingehakt nebeneinander bewegten und jeden Zentimeter des Überganges auskosteten. Bis zum letzten Moment der Ampelphase setzten die Quergehenden ihre federleichten Schritte auf die Straße, wobei sie fast unmerklich nach hinten und nach vorne schlingerten und dabei den Eindruck hinterließen, sich in Zeitlupe und auch auf Zehenspitzen fortzubewegen. Stets blieben sie untergehakt. Und wenn es vom Gleichgewicht möglich gewesen wäre, hätten sie ihre Füße zehenpaarweise miteinander verbunden, um mit minimalstem Bodenkontakt zwangsläufig eine neue Fortbewegungsart zu kreieren. Besagte Ampel, die dankenswerterweise im Zuge der U-Bahnbaustelle errichtet worden war, stellte sich als Wunderding der gesamten Verkehrsregelungs-Evolution heraus. Das Kunststück bestand darin, dass diese Ampel zwar als Provisorium angelegt worden war, jedoch aufgrund der Funktionsweise innerhalb kürzester Zeit Kultstatus erlangt hatte. Nur ein einziger, bemerkenswert einfacher Trick war vonnöten, um dieses Alleinstellungsmerkmal zu erzeugen: die Phasenlänge. Vielleicht war man in der Konzipierung dieses Überganges, der tatsächlich inmitten der prächtigen Auerspergstraße zum Verweilen einlud, davon ausgegangen, dass eben diese Abbremsung und der temporäre Stillstand allen Verkehrsteilnehmenden zuzumuten waren – ganz gleich ob sie in Blechschüsseln saßen und auf die Überquerenden lugten oder ob sie einander am Übergang zuwinkten und Grußworte ausstauschten. Die Kunde von diesem außergewöhnlichen Intervall verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der gesamten Wienerstadt. Exkursionen wurden ausgerichtet, hoffnungsvolle und künftig stadtplanerisch tätige junge Menschen kamen im Rahmen ihrer Seminare ebenso hierher wie desillusionierte ergraute Verkehrsfachleute, die mehrmals wöchentlich ihre inneren Batterien allein durch das Betrachten der Vorkommnisse neu auffüllten. Erstaunlicherweise blickte dabei keiner der Genannten auf die personalisierten Wisch-und Wegdinger, welche in den Hosentaschen verweilen konnten oder unbeachtet um die Hälse baumelten. Auch die zahlreichen einzeln angereisten Personen, die mit interessierter Miene am Rande standen, schienen auf den sekündlichen Smartphone-Blick und das obligatorische Foto vergessen zu haben. Dass die Kunde von dem wundersamen Übergang trotzdem in social media landete und die üblichen dummen, hasserfüllten, aber auch kluge und hoffnungsvolle Kommentare erhielt, war wahrscheinlich den Schüssel-Sitzenden zu verdanken, die wohl aus Langeweile oder aus Gewohnheit auf den Auslöser gedrückt hatten und die Stehpausen dazu nutzten, das Foto mit mehreren Fragezeichen und diversen ratlosen Smileys in ihren Gruppen zu posten. Gestikulata sah von ihrem Fenster aus, wie eine lose Gruppe aus den Weiten des ersten Bezirks zielstrebig Richtung Übergang eilte. Diese Leute, die so oft schon im mondänen Nachbarbezirk wie aufgescheuchte Hühner oder watschelnde Enten aus dem nahe gelegenen Volksgarten über die Ringstraße sprinten mussten, näherten sich im Laufschritt, um die Quergehenden bei ihrer Performance zu unterstützen. Sie wussten aus leidvoller Erfahrung, wie es sich anfühlte, einen beampelten Übergang zu benutzen, der den Schüssel-Sitzenden Freiheiten zugestand, von denen die Fußgehetzten nur träumen konnten. Sie, die bereits beim ersten Fußkontakt mit der eindrucksvollen Ringstraße ein mehr oder weniger bedrohliches Blinken der gegenüber befindlichen Ampel registrieren mussten. Nervenstärke war also angesagt, da die wartenden Autostehenden aufgeregt und begierig auf die nächste lange Grünphase spähten, auf die sie aus nicht näher erörterten Gründen ein Anrecht zu haben schienen. Nein, von all diesen Anwandlungen und Verwerfungen war hier im letzten Ausläufer des achten Bezirks nichts zu spüren, wobei natürlich der Gerechtigkeit halber anzumerken bleibt, dass die Wunderampel zwei Bezirke verband und somit auch als Geste der Versöhnung mit dem ersten Bezirk zu verstehen war, vor allem mit dessen hektischer Seite. Gestikulata lächelte versonnen. Wie schön war es, die Überquerenden bei der Arbeit zu beobachten. Sie waren nun am anderen Ende des Überganges angekommen und näherten sich einem unförmigen Betonblock, an dessen Fußende etwas wahrhaft Wertvolles lag. Es war ein Gegenstand, den die Straße aus sich selber herausgebracht hatte, ein Amulett könnte man sagen, ein edler Stein auf alle Fälle. Jetzt, genau dann, als die Ampel bereits blinkte, selbst dann hatten die Überquerenden noch Zeit und Muße vor dem kleinen weißen Stein, der abgerundet und ein wenig straßenschmutzig am Rande des improvisierten Gehsteigs lag, ihre tiefste Verbeugung zu vollführen – eine ehrerbietige Bewegung, die ihre Nasen bis zu einem Zentimeter über dem Stein schweben ließ. Und auch wenn die Schüssel-Sitzenden es wohl nicht zugegeben hätten, gab es bereits Augenzeugenberichte über eben diese Momente, die die wahrhaftige Ergriffenheit und Verwunderung dieser von Blech Umgebenen in Protokollen festgehalten hatten. Gestikulata wandte ihren Blick nach rechts. Auf der schmalen Josefsgasse machte ein Gefährt auf sich aufmerksam, das langsam die Gasse entlang rumpelte. Es war FRIDOLIN, der Straßenversorger, der mit seinem Kehrwägelchen lautstark in die Gasse des Josef eingebogen war. Friedvoll und freundlich durchquerte er Tag für Tag das Grätzl, wenn nicht sogar die gesamte Josefstadt, und ward des öfteren an einladenden Straßenecken pausierend und im Gespräch mit Menschen zu beobachten. Wie so oft, wenn Gestikulata vom Fenster aus auf die Gasse lugte, erfasste ihr Blick auch heute wieder eine nachbarschaftliche Begegnungsszenerie, die sie mehr an dörfliche Strukturen als an städtische denken ließ, wären da nicht zu beiden Seiten der schmalen Josefsgasse mehr oder weniger protzige Blechkarossen im uninspirierten Parkmodus zu sehen gewesen. Hier war es durchaus Usus, dass Menschen einander grüßten, hinter oder zwischen den Autoriesen stehen blieben, gestikulierten, lachten, oder auch miteinander stritten, wobei es bei letzeren Zusammentreffen zumeist um kleinere Konflikte zwischen Radflitzern und Autositzern ging. Als sie kurz nach links schaute, erblickte Gestikulata nun auch ANNA-BELLA-HEDWIG, welche von der auerspergiensischen Weite in die Josefsgasse eingebogen war und gemächlichen Schrittes den gegenüberliegenden Gehsteig entlang ging. Die eng geparkten Autos, deren abgestelltes Dasein den Gehsteig rein optisch zusätzlich verkleinerte, komplettierten dieses Bild der Eingezwicktheit. In nur wenigen Minuten würde sie auf den Laufgeher THEO M. PHIL treffen, der mit federndem Schritt und leicht nach hinten gestrecktem Oberkörper, die Straßen hinauf- und hinunterfegte, wobei dies als Metapher für seine luftige Fortbewegungsart gemeint ist und ihn in keinerlei Konkurrenzverhältnis zu Fridolin, dem eigentlichen Straßenfeger, stellte. Wohl aufgrund ihres gemächlichen Schrittes bemerkte Anna-Bella-Hedwig Theo M. Phil als Erste. Sie winkte ihm zu, worauf der Laufgeher lächelnd im mittleren Teil der Gasse stehen blieb, die er anstelle des minimalistisch und auch stufenförmig angelegten Gehsteigs zu seiner bevorzugten Lauf-Geh-Strecke auserkoren hatte. Diese Gasse des Josef trug bezeichnenderweise den Titel 'Wohnstraße' und nicht 'Durchzugsstraße für herunter polternde Automobile und rasende Fahrräder samt verstöpselten Pedaltretern'. Die Bezeichnung 'Wohnstraße' hätte also spielende Kinder und Erwachsene dazu berechtigt, zwischen Blechschüsseln und Fahrrädern lachend und quietschend Ball zu spielen, das Federball-Set auszupacken, Qui Gong zu betreiben oder sich anderwärtig sportlich zu betätigen. Dass davon niemand richtig Gebrauch machte und stattdessen vor allem laufende Füße von Joggern zu hören waren, die Richtung Innenstadt davon rannten, leuchtete ein und wurde nicht weiter hinterfragt, wiewohl laut ernstzunehmender Nachrichten diese 'Wohnstraße' zur Begegnungszone werden sollte und jene Veränderung in naher Zukunft mit Spannung erwartet werden kann. |
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