Home
SPRECH-Projekte
SPRECH-Info
SPRECH-Kontakt

Laufende Text-Ereignisse / 3
Laufende [TEXT]-Ereignisse

LTE 103

EIN JOSEFSTÄDTER GRÄTZLTRAUM
von EVELYN BLUMENAU
S 2

Wenige Menschen waren mutig genug, trotzdem auf der Straße zu gehen, insbesondere wenn sie Rollkoffer zum nahegelegen Hof des Josef transferieren mussten. Diese Reisenden und auch Theo M. Phil nutzten die Straße als Transportweg für Koffer mit Dingen des täglichen Gebrauchs und wurden von den beräderten Verkehrsteilnehmern mit mehr oder weniger unzufriedenem Gesichtsausdruck geduldet. Es war eine Tatsache, dass nur die Unterbrechung des Verkehrsflusses die Geschwindigkeit jener, die auf zwei oder vier Rädern unterwegs waren, drosseln konnte. Nicht selten wurde dies jedoch von den Beräderten als Affront und als Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit aufgefasst. Die Josefsgasse war aufgrund ihrer topographischen Lage einfach zu verführerisch. Die leichte Neigung, welche von der Lange Gasse zur Auerspergstraße zu spüren und zu sehen war, brachte viele dazu, ihr Tempo nicht zu drosseln und um einiges zu schnell hinunterzudüsen. Dies hatte zur Folge, dass die meisten, die per pedes unterwegs waren, vorsichtshalber auf die zierlichen Gehsteige auswichen, welche teilweise an den Hauswänden zu kleben schienen.

Anna-Bella-Hedwig war am Gehsteig stehen geblieben und parlierte bereits mit Theo M. Phil. Sie betrat die Gasse und zeigte ihm zwischen zwei eng geparkten Groß-Auto-Schüsseln einige Papiere.
 
Gestikulata erkannte die Flugzettel, die ihr zuvor im Umfeld der Quergeher aufgefallen waren. Der Laufgeher nickte interessiert und übernahm einen Packen, um sie in seinem praktischen Rucksack zu verstauen, den er stets und überall trug. Gestikulata hielt nun nichts mehr an ihrem Fenster in der Josefsgasse. Sie schlüpfte in ihre roten Sportschuhe, nahm die Jeansjacke vom Haken und setzte ihren Strohhut auf. Dann polterte sie lautstark über die gewundene Stiege Richtung Haustor.

Theo M. Phil, der sich soeben freundlich winkend von Anna-Bella-Hedwig verabschiedet hatte, zog weiter seines Weges durch die Josefsgasse und nahm Gestikulata, welche die Stiegen hinuntergelaufen war, bereits vor ihrem Ankommen bei den Postkästen und in der Folge vor der Haustüre des Wohnhauses wahr. Die Menschen im Grätzl hatten eine Eigenschaft gemeinsam, die als 'diskrete Vorausahnung des nächsten Augenblicks' trefflich beschrieben werden kann und in der Grätzl-DNA seit Jahrzehnten eingeschrieben war. So erhob er seine Hand und winkte in Richtung Gestikulata, noch bevor sie bei der Haustüre herausgestürmt kam, um sich – wie so oft – auf dem engen Gehsteig wieder einzubremsen. Dies war eine Vorsichtsmaßnahme, die dabei half, plötzlich auftauchende Mitmenschen am Mikro-Gehsteig nicht zu Fall zu bringen.

Gestikulata gestikulierte zurück und zeigte ganzkörperbetont in Richtung Auerspergstraße. Zielstrebig lenkte sie ihren Schritt dorthin. Das tosende Straßenmeer der auerspergiensischen Weite erwartete sie bereits. Sie blickte nach rechts und bemerkte mit großer Freude die Anwesenheit von ANSALA und ANDALA. Die Polizistinnenzwillinge hatten wenige Häuser weiter ihr Polizeiauto abgestellt und waren wie so oft in lehrreiche Gespräche mit gestoppten Radfahrern und zur Seite gewinkten Blechkutscheninsassen vertieft. Grund dafür war ein Abbiegeverbot in die Auerspergstraße, das häufig nicht wahrgenommen, übersehen oder bewusst negiert wurde. Dieser Umstand brachte Ansala und Andala eine stattliche Anzahl temporärer Gäste, die mit teils hochroten Gesichtern mehr oder weniger schuldbewusst, empört oder ertappt wirkten. Die beiden Polizistinnen trugen unter ihren Polizeikappen kunstvoll frisierte rotbraune Hochsteckfrisuren, die an die fünfzig Zentimeter maßen und allseits bewundernde Blicke ernteten, selbst von jenen, die dem Ruf der Gesetzeshüterinnen Folge leisten mussten. Die Frisuren erinnerten an den geheimnisvollen Turmbau zu Babel und hätten höchste Auszeichnungen für ausgeklügelte Friseurskunst verdient.

Gestikulata steuerte die beiden an und kam dabei an jenem Lokal vorbei, das jahrzehntelang ein Kopiergeschäft der besonderen Art beherbergt hatte. Sie begrüßte Ansala wild winkend, die die Amtshandlungen gerade abgeschlossen hatte und frei war. Andala hingegen beobachtete den Verkehr und das Geschehen rund um neue Falschabbieger. Ansala wollte die Gestikulierende schon in gewohnt professioneller Art zu sich winken, als ihr lächelnd bewusst wurde, dass es sich bei Gestikulata nicht um ein Automobil, Lastenfahrrad oder ähnliche Gerätschaft handelte.
"Ansala!", brach es aus Gestikulata heraus. "Es gibt sie wieder, die Flugzettel sind unterwegs und werden unter die Leute gebracht." Die Zwillingspolizistin lächelte erfreut und verkündete eine andere wichtige Nachricht des Tages. "Und weißt du schon, wer außerdem wieder unterwegs ist? Kannst du es dir vorstellen?"

Gestikulata ahnte bereits, was nun kommen sollte und hing an Ansalas Lippen. Diese erzählte ihr von einer außergewöhnlichen Sichtung, die von vielen Personen im Grätzl unabhängig voneinander gemacht worden war. ER wäre wieder da. Ob an mehreren Orten gleichzeitig, wisse sie nicht, aber ER wäre es zweifelsohne gewesen, denn ER wäre unverkennbar gewesen, flanierend in seiner gelassenen Art, leicht gebückt, mit wachem freundlichen Blick. Gestikulata erstarrte und bekam kurzfristig eine Schnappatmung, so sehr regte sie die Nachricht auf, aber es war ja zum Glück eine freudige Aufregung. Sie stammelte etwas Unverständliches und winkte Theo M. Phil herbei, der in dieser Sekunde um die Straßenecke gebogen kam und die Anwesenheit von Ansala und Andala bereits im vorhinein erspürt hatte. "Hast du IHN auch gesehen?", rief Gestikulata unbeirrt gegen den Lärm der Straße in Richtung des Laufgehers. Er schien sie nicht zu verstehen, da soeben eine Grünphase für den Fließverkehr begonnen hatte. Beide Polizistinnen schärften den Blick und konzentrierten sich auf ihre Arbeit. "ER, Theophil, ER!", war das einzige, das Gestikulata immer wieder von sich gab, als der Laufgeher schließlich vor ihr zum Stehen gekommen war. "Genau das wollte ich dir auch erzählen", entgegnete er, der keine Sekunde außer Atem geriet, so sehr war er bereits mit seiner Leidenschaft, dem Laufgehen verbunden. Theo M. Phil war mit dem Straßenversorger Fridolin ins Gespräch gekommen, der IHN getroffen und von jener Begegnung der besonderen Art geschwärmt hatte. ER war das Synonym für einen ägyptischen Edelmann, der vor geraumer Zeit den besagten Copy-Shop betrieben hatte, jenes Lokal das in unmittelbarer Nähe zum Standort von Ansala und Andala angesiedelt gewesen war.

Er hatte aufgrund seiner Ausstrahlung und Bescheidenheit Menschen in den Bann gezogen, er hatte als Anlaufstelle für Aktivitäten fungiert, die weit über seine eigentliche Tätigkeit des Kopierens hinausgegangen waren, er war Beichtvater, Barman und väterlicher Freund gewesen, er war wahrlich der Kopier-Pharao gewesen, der stets ein offenes Ohr für die Nöte seiner Mitmenschen gehabt hatte und seine Arbeit mit stoischer Gelassenheit punktgenau erledigte. ER war ein liebenswürdiger weiser Mann gewesen und ER war im Frühjahr 2023 verstorben.

- - -

Gestikulata hatte geschlafen. Lange, ungewöhnlich lange. Niemand weiß, wie viele Stunden. Oder waren es Tage gewesen? Jedenfalls war der Sommer in vollem Gange, und Gestikulata rang um ihre Orientierung.

Sie streckte sich in ihrem Sommerbett, wälzte sich noch ein-, zweimal umher, bevor sie beschloss aufzustehen. Hell schimmerte das Sonnenlicht durch das Fenster. Sie dachte bei sich, dass es alle Tage sein könne, ohne Unterschied der Reihung, wie sie für gewöhnlich vorgenommen wurde.
Plötzlich wurde sie stutzig. Ein intensives Gefühl meldete ihr, dass sie einen Blick aus dem Fenster werfen sollte, hinaus auf die schmale Josefsgasse. Sie öffnete das Fenster und verharrte ungläubig am halbgeöffneten Fensterflügel. Das, was sie selbst in ihren kühnsten Träumen nicht hätte voraussehen können, war geschehen, augenscheinlich passiert, wie von Zauberhand vollbracht, unerklärlicherweise wohl während ihres Schlafes. Die altehrwürdige Gasse des Josef war bis auf die Gebäude kaum mehr wiederzuerkennen. Ein weiß-graues fröhliches Steinplattenmuster zierte die Gasse, die Gehsteige waren verschwunden, Baufahrzeuge wurden im oberen Bereich der hügeligen Gasse hin und her bewegt. Blechkarossen mit oder ohne Insassen sah sie in weite Ferne gerückt.

Tief ein- und ausatmen. Um nicht in eine Schnappatmung zu verfallen oder schier vor Freude überzuschnappen, versuchte sie sich mit regelmäßigen Atemübungen zu beruhigen.

Was war geschehen?


© 2024 Evelyn Blumenau                                       < S 1 /  S 2  /  S 3 >                                                            

DAS SPRECH - Initiative für Hör-, Sprach- und Sprechkunst       Impressum/Kontakt