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LTE 103
EIN JOSEFSTÄDTER GRÄTZLTRAUMvon EVELYN BLUMENAU S 4
Das explorative Herumstreichen im achten Bezirk hatte sie voll und ganz erfasst und mit großer Neugier erfüllt. Gleichzeitig war sie spätsommer-müde und hätte auch nichts dagegen gehabt, von einem fliegenden Zentauren am Fahrrad ein Stück mitgenommen zu werden. Gedacht, ge.....? - Doch was war das? Was passierte gerade mit ihren Füßen? Der Boden unter ihr schien nicht mehr spürbar zu sein. Wie aus einem Reflex heraus blickte Gestikulata zu den beiden Raben. Diese setzten sich justament in jenem Augenblick in Bewegung und verließen flatternd ihren Baum in Richtung Josefstädter Straße. Gestikulata verspürte eine immense Sehnsucht, es ihnen gleich zu tun. Ihre Füße hatten den weichen Parkboden bereits verlassen, ihr Körpergewicht war kaum spürbar, und ihre Arme und Beine vollführten eine Art Schwimmbewegung. Wie von selber legten sie sich an den Körper und der anfangs holprige Flugversuch ging alsbald in ruhiges Schweben über. Sie gewann zusehends mehr Selbstvertrauen. Der Tag war zudem ideal für einen Rundflug, und es weht eine angenehme Brise. Gestikulata ließ sich treiben. Sie bemerkte zu ihrer Verwunderung, dass neben ihr noch jemand in der Luft unterwegs war. Der Zentaur am Fahrrad grüßte sie recht freundlich und war augenscheinlich hocherfreut, dass eine junge Frau seine Mitflieggelegenheit in Anspruch genommen hatte. "Wohin des Weges?", rief Gestikulata der Fliegerin zu. "Einfach ab durch die Häuser, Innenleben interessiert mich!" Und schon waren die beiden mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter geflogen. Gestikulata war begeistert. Welch spannende Idee! Mittlerweile war es etwas dünkler geworden. Gestikulata spürte die Sonnenwärme auf ihrem Rücken. Jetzt zog es die Luftfliegerin in die unterste Josefstadt, und so flog sie beim Schlösslplatzl vorbei, wo die Nägel Geschichten erzählen, wie so manche in der Josefstadt Ansässigen mitunter behaupten. Gestikulata bremste sich ein und kreiste vorsichtig über den Platz, der stets wie eine Theaterkulisse auf sie wirkte. Sie blickte kurz auf ihren Ringfinger, der von einem zarten Ring mit einem Rosenquarzstein geziert wurde. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie des öfteren auf ihn gegriffen hatte, als sie den Menschen von oben zugehört hatte. Das Schmuckstück war von Hand gefertigt und stammte ebenfalls aus der Josefstadt. 'Praktisch, dass dieser kleine zarte Ring wohl eine Verstärkerfunktion beinhalten dürfte', freute sich Gestikulata. Leise schwebend bog sie nun in die Lenaugasse ein und entdeckte zu ihrer großen Freude Theo M. Phil. Da sie ihn nicht unnötig erschrecken wollte, nahm sie auf einem der hohen Bäume Platz. Der Laufgeher hatte es sich in der Grätzloase gemütlich gemacht und las in einem Buch, nein, er las in seinem Buch, das er vor einiger Zeit geschrieben hatte. Eine Dame unbestimmten Alters setzte sich in die andere Ecke und nahm ebenfalls ein Textwerk zur Hand. Theo M. Phil schien sie nicht bemerkt zu haben, denn er begann leise, aber dennoch hörbar zu lesen. Gestikulata war wie elektrisiert, das konnte sie sich nicht entgehen lassen. Sie drückte auf ihren Ring. "Die poetische Luftraumüberwachung möge beginnen", flüsterte sie. Und schon vernahm sie seine Stimme. "... Sie hatten das Gefühl .... immer
noch in der allerersten Sekunde ihres Lebens festzustecken. Sie nahmen
wahr ... und dabei ließen sie sich nicht aus der Ruhe bringen (...)
während die Sekunde, dieser ihre erste Sekunde, lief und lief ..."
Die Dame blickte interessiert zu Theo M. Phil, lächelte und begann nun ihrerseits aus ihrem Buch vorzulesen. "... Ihr meßt nach der Dauer das Leben
Berechnet nach Jahren die Zeit Ich zähle nicht Tag und nicht Stunde Ich habe in einer Sekunde Durchlebt die Ewigkeit." Jetzt blickte Theo M. Phil auf und lächelte die Dame spontan an. Gestikulata hatte das Gefühl, Zeugin eines besonderen Augenblicks geworden zu sein und vergaß fast zu atmen. Als sie wieder Luft holte, fiel ihr auf, dass die Dame eine Vorliebe für exquisite und antiquierte Mode haben dürfte, in diesem Fall tippte Gestikulata auf das 19. Jahrhundert. Gestikulata nahm es gelassen hin und flog so geräuscharm wie möglich zu einem Baum am Schlösslplatzl. Sie wollte die zwei dichtenden Menschen keinesfalls stören. Niemand war zu sehen, daher konnte sie unauffällig hinunter klettern. Das letzte Stück wollte sie zu Fuß gehen. Gestikulata zog es heim in die Josefsgasse. Als sie die neue Gasse des Josef erleichtert hinunterschritt, hörte sie bereits Stimmen und Geräusche, die von vielen Menschen stammten und sie sah, wie auf der Höhe der Galerie und des gegenüberliegenden Hotels eine lange Tafel aufgebaut stand. Viele Nachbarn und Nachbarinnen waren da, sie sah auch Fridolin, Theo M. Phil, Ansala, Andala, den Pfeifer, die Quergeher und Quergeherinnen sowie ander Menschen, die ihr unbekannt waren. Es wurden Sessel gebracht, Platten mit Speisen, Getränke, Teller, Gläser. Theo M. Phil winkte ihr zu. Als sie bei der Tafel angekommen war, schob er ihr einen roten Stuhl zu. Gerne ließ sie sich hinein plumpsen. Anna-Bella-Hedwig saß zu ihrer Rechten und bot ihr ein Gläschen gut gekühlten Johannisbeersaft an, von dem sie nur zu gut wusste, dass Gestikulata dafür eine Vorliebe hatte. "Hier, meine Liebe!", sagte sie. "Stoßen wir an, es geht gleich los". Anna-Bella-Hedwig hielt ihr eigenes Glas bereits voller Vorfreude in die Höhe. "Gerne, gerne ...", lächelte Gestikulata etwas verunsichert. "Allerdings muss ich gestehen, dass ich keine Ahnung habe, wovon du sprichst." Etwas glitzerte hoch oben zwischen den Häuserecken, die die Josefsgasse zu beiden Seiten begrenzten. Gestikulata war davon abgelenkt und dachte bei sich, dass dies wohl mit dem schwachen Sonnenlicht zu tun haben könnte, wobei ihr dies merkwürdig und auch irgendwie unlogisch vorkam. "Aber was ist heute eigentlich logisch gewesen?" Ihr war nicht bewusst, dass sie diesen Satz laut ausgesprochen hatte. Anna-Bella-Hedwig sah sie interessiert an. "Spannend, dass du das gerade erwähnst ... Schau, wir haben einen speziellen Gast, nein zwei Gäste!" Und sie zeigte zu der Engstelle der begrenzten Josefsgasse. Von dort bewegten sich zwei Männer auf die Tafel zu. "Das ist unser Kopier-Pharao, gemeinsam mit HENDRICK!", platzte Gestikulata heraus, und auch etliche andere Gäste hatten die beiden erkannt. Hendrick hatte lange in der Stadiongasse gewohnt und war mit einigen der Anwesenden gut bekannt gewesen. Er hatte als Medienkünstler und Autor gewirkt, war stets umtriebig und engagiert gewesen. Gestikulata wurde kurz traurig, als sie daran dachte, dass Hendrick bereits vor vier Jahren gestorben war. Umso schöner war es, ihn jetzt hier gemeinsam mit dem edlen Kopierkönig zu sehen. Mittlerweile war es still geworden in der Josefsgasse, denn die beiden Herren begannen abwechselnd zu sprechen. "Liebe Grätzl-Bewohner und Bewohnerinnen, liebe Gäste von nah und fern. Wir gratulieren euch. Ihr habt euch erfolgreich integriert. In euch selbst! Das Grätzel verändert sich, nein, die Grätzl verändern sich, und ihr seid ein wichtiger Teil davon. Baut sie aus, diese Stärke. Lasst das MITEINANDER in eure Mitte und pflegt es, so wie wir es zu unserer Zeit gepflegt haben. - Kennt ihr übrigens den kleinen weißen Stein am Rand des beampelten Übergangs hinter uns?" Die meisten der Gäste bejahten diese Frage. "Er möge ein Symbol werden. Ein Symbol für das Gemeinsame. Sollte er verloren gehen, bitten wir euch, ihn zu ersetzen. An der Donau findet ihr genügend Steine dieser Art. Und nun blickt nach oben, denn dort wartet unser Abschiedsgeschenk auf euch." Die Köpfe reckten sich in die Höhe, und jetzt sahen alle, was sich zuvor für Gestikulata bereits materialisiert hatte. Ein glitzernder Bogen spannte sich über den Beginn der Josefsgasse. Zwischen den Ecken der Häuser war er zu sehen, eine Verbindung, ein Einlass in die Gasse und damit quasi der Eintritt in die Josefstadt. "Ein Bogen!", flüsterte Fridolin, "Wie damals im 18. Jahrhundert. Unfassbar ... Möge er den Verkehr in dieser Gasse gemächlicher rollen lassen, als es vorher der Fall war. Mögen alle Raser und Durchpolterer ihre Geschwindigkeit zügeln und an mein Kehrwägelchen anpassen." Alle stimmten begeistert zu und begannen miteinander zu reden. Sie wollten sich bei Hendrick und dem Kopier-Pharao bedanken, aber die beiden waren verschwunden. Niemand wunderte sich darüber, denn alle fühlten die Besonderheit dieses Augenblicks. Anna-Bella-Hedwig ging zu einem kleinen schwarzen Koffer-Plattenspieler und meinte mit einem breiten Lächeln. "Wie wäre es damit?" Sie legte eine Schallplatte auf. Das 'Credo' aus der Missa Solemnis von Ludwig van Beethoven erklang und verbreitete sich in der Gasse. Ja, man hörte es bis hinüber in den ersten Bezirk und in die Trautsongasse, wo das Credo ja entstanden sein soll. Die Anwesenden nickten zustimmend und nahmen nun endgültig Platz. Über ihren Köpfen rauschte der fahrradfliegende Zentaur Richtung Innere Stadt - wahrscheinlich hatte er einen neuen Transportauftrag - und zu den Klängen von Beethoven begann ein Fest, an das sich die neue Josefsgasse noch lange erinnern würde. |
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