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Laufende Text-Ereignisse / 3
Laufende [TEXT]-Ereignisse

LTE 103

EIN JOSEFSTÄDTER GRÄTZLTRAUM
von EVELYN BLUMENAU
S 3

Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit Ansala, der Polizistin. Sie wusste noch, wie sie voll Freude über das Wiederauftauchen des Kopier-Pharaos gewesen war. Und selbstverständlich entsann sie sich ihrer Begegnung mit Theo M. Phil.

Doch was war danach geschehen?

Das fröhliche Pfeifen des Wundermannes riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah nach rechts und erblickte ihn, den jungen Pfeifer, erstmals höchstpersönlich fünf Fenster weiter. Er schien ebenfalls interessiert auf die neu erstrahlende Gasse zu blicken und ließ einen bewundernden Pfiff hören. Kunstvoll ließ er den Pfiff in der Luft stehen, um ihn sogleich in ein fantasievolles Taubengurren übergehen zu lassen, das den echten Tauben, die am gegenüberliegenden Hausdach saßen, kurzzeitig die Stimmen verschlug und wohl auch die Schamesröte ins zarte Vogelgesicht trieb. So täuschend echt, ungemein melodiös und voller Lamento erklang jene Geräuschfolge. Gestikulata sinnierte kurz über die errötenden Gesichtszüge der Taubengeschöpfe, die wahrlich nicht auszuschließen waren, hatte man doch unlängst eben entdeckt, dass auch bei Hühnern eine Art Errötung bestimmter Hautstellen nachgewiesen werden konnte.

So interessant diese Überlegungen auch waren, eine zentrale Frage blieb bestehen: Was war hier vor ihrer Nase, vor ihrer schlafenden Gestalt, in einer unbekannten Zeitspanne geschehen?

Gestikulata wollte dem Pfeifer zurufen, ob er wohl etwas in Erfahrung gebracht hatte, doch dieser hatte sich nach dem exzellenten Gurrkonzert bereits wieder in das Innere der Nachbahrswohnung zurückgezogen. Sie sah noch, wie er seinen Kopf samt eindrucksvoller roter Kopfbedeckung, die an eine Harlekinmütze erinnerte, nach hinten bewegte. Dann war er verschwunden.

Nichts hielt Gestikulata in der Wohnung. Theo M. Phil war nicht da, ihn konnte sie also sowieso nicht fragen, und auch ein Anruf bei ihm brachte sie nur in dessen Mailbox. Gestikulata schlüpfte wiederum in ihre roten Schuhe, nahm den Strohhut von der Garderobe und stürzte sich ins Stiegenhaus. Sie lief hinunter und kam außer Atem im Innenhof zum Stehen. Das große grüne Tor war offen und vor ihr erstrahlte die komplett veränderte Josefsgasse. 'Wohin soll ich mich wenden?', dachte sie bei sich. Sie entschloss sich, die neue Josefsgasse hinaufzugehen, diese Gasse, die hell-grau-weiß gemustert zu ihren Füßen lag und sie magisch anzog, immer weiter in Richtung Lange Gasse. Voller Elan schritt sie in ungewohnter Weise inmitten der Gasse und fand sich in fröhlicher Gesellschaft von flanierenden und parlierenden Reisenden mit und ohne Koffer.
Sie bemerkte lachende Vierergruppen, die die nun breiter wirkende Gasse ausfüllten. Ihr Blick fiel auf die Galerie, die sich zu ihrer Linken befand. Sie erblickte das Gemälde eines stolzen Zentaur und davor eine prächtige grüne Pfauenfeder, die im Raum rotierte. Wahrscheinlich an unsichtbaren Fäden befestigt, das war fürwahr ein gefiederter Blickfang!

Sie erblickte bemühte Mitmenschen, die mit ihren Fahrrädern nicht mehr die Josefsgasse in einem durchqueren konnten und das erste Mal das Nachsehen hatten, da zahlreiche schlendernde Leute offensichtlich ein neues Selbstbewusstsein an den Tag legten und die Gasse durch ihre Präsenz in Beschlag nahmen. Die Radelnden wirkten merklich irritiert. 'Die Gasse aller Gassen ...', sinnierte Gestikulata, 'Wie wird es hier weitergehen?' Sie blieb abrupt stehen und begann vor sich hin zu träumen. Vor ihrem inneren Auge erschienen manch kuriose Bilder und Ideen, die allesamt mit Veränderung zu tun hatten.

Renaturierung vom Feinsten, Begegnungszonen-Bücher, rote Bänke für einen Zonen-Plausch, Erforschung des Untergrunds und vieles mehr schoss ihr durch den Kopf. Sie fragte sich, woher all diese außergewöhnlichen Gedanken kamen. Es war ihr ein wenig so, als würden viele Stimmen zu ihr sprechen.

'Wie auch immer', dachte Gestikulata, auf jeden Fall wäre dies eine spannende Zukunft, in die sich die Josefstadt ohne Unterlass zubewegen könnte.

Ihre Füße führten sie automatisch immer weiter hinauf. Fast hätte sie das freundschaftliche Winken von Fridolin, dem Straßenversorger, übersehen. Gestikulata näherte sich grüßend und platzte sofort mit ihrer Frage heraus: "Fridolin, was ist mit der Josefsgasse passiert?" Er lachte übers ganze Gesicht und deutete die Frage bloß als begeisterten Ausruf über die vielen neuen Aspekte und auch Vorteile, die der Umbau mit sich gebracht hatte und hoffentlich auch weiterhin bringen würde. Er begann davon zu schwärmen, wie gut er mit seinem Kehrwagen in Kürze hinunterrollen könne. Gestikulata nickte. Bevor sie noch weitere Fragen stellen konnte, erzählte er von seiner Sichtung des Kopier-Pharaos, der ihm an unterschiedlichen Orten der Josefstadt  über den Weg gelaufen war, immerzu im Gespräch mit anderen Menschen. Gestikulata nickte nochmals, worauf sich Fridolin entschuldigend verabschiedete, da er mit seiner Arbeit fertig werden musste, es sei ja Freitag Nachmittag. Eiligst rollte er Richtung erster Bezirk die Josefsgasse hinunter.
 
Gestikulata wiederum beschloss, einfach der Nase lang zu gehen. Sie betrat den Hugo-Bettauer-Platz mit der prächtigen Platane und schlenderte zur Zeltgasse. Nach den beiden Durchgängen, die dem imposanten Gemeindebau zu eigen waren, vernahm sie ein ungewohntes surrendes Geräusch, das aus der Luft zu kommen schien. Sie schüttelte etwas ungläubig den Kopf. Vielleicht waren ihre Nerven überspannt, aber es war ihr, als hätte sie ein fliegendes Tandem entdeckt, das ein Zentaur in bewundernswerter Eleganz steuerte. Gestikulata nahm einen Schluck Wasser aus ihrer Trinkflasche und beschloss, sich auch von dieser seltsamen Erscheinung nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie nahm ihren Schritt wieder auf. Alles in allem hatte sie wieder einmal das Gefühl von Urbaner Dörflichkeit. Anonymität, soweit man sie selber wollte und Kontaktmöglichkeiten in überschaubarem Rahmen. Mit diesen Gedanken betrat sie die Pfeilgasse und beschloss erneut, eine kleine Trinkpause einzulegen.

Sie ging auf der linken Seite bis zum Wohnheim, wo sich Bäume und Bänke befanden und nahm auf einer von ihnen Platz. Drei Personen hatten sich ebenfalls eingefunden und waren auf einer zweiten Parkbank in ein Gespräch vertieft. Ein älterer Herr erzählte dem jüngeren Paar von der Pfeilgasse, die er in einem seiner Texte beschrieben hatte. Er schwärmte von den Vorzügen dieser Verbindung, die bis hinunter in den ersten Bezirk führte. Eine Art Magnetismus wäre es, der ihn des öfteren von der oberen Pfeilgasse hinunter in die Auerspergstraße zöge. Die junge Frau und ihr ebenso junger Begleiter schmunzelten und blickten einander tiefer in die Augen. "Fantastisch", meinte die Frau, "Vielleicht sollten wir Milodan öfters besuchen kommen. Was meinst du, lieber Frank?" "Ja, sehr gerne, meine liebe Milonja-Malina!", antwortete der Angesprochene, um etwas betrübt fortzusetzen: "Aber du weißt, es geht nur, wenn mein Gesundheitszustand es zulässt." Er hüstelte leicht und wirkte insgesamt blass oder besser gesagt durchscheinend. Soweit Gestikulata es sehen konnte, war er von sehr schlankem Wuchs. Überdies nahm sie wahr, wie Milodan die beiden mit melancholischem Blick sehr liebevoll, doch auch irgendwie nachdenklich und wehmütig musterte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die beiden jungen Menschen außergewöhnlich elegant aussahen, fast so, als hätten sie in einem exquisiten Vintage-Laden mit Spezialisierung auf das frühe 20. Jahrhundert eingekauft. Gestikulata nahm noch einige Schluck Wasser zu sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Es war ihr, als hätte sie die drei Personen schon einmal gesehen. Weniger im realen Leben als in Filmen oder Dokumentationen. 'Vielleicht sollte ich weniger fernsehen', dachte sie belustigt. Sie fand Milodan, Milonja-Malina und Frank überaus anziehend, insbesondere deshalb, weil die drei gerade begannen, über Dichtkunst und über das Schreiben allgemein zu sprechen.

Der Ruf von zwei Raben lenkte für einen Moment ihre Aufmerksamkeit nach oben. Die Krähentiere flogen in Richtung Tigerpark, wo sie in einer der Baumkronen landeten. Als sie ihren Blick wieder senkte, um die drei Menschen auf der Parkbank weiter zu beobachten, musste sie feststellen, dass diese verschwunden waren. Sie blickte um sich, konnte aber nicht ausmachen, in welche Richtung sie gegangen waren.

So beschloss sie, das Kopfschütteln sein zu lassen und sich über nichts mehr zu wundern. Es gab eben nicht immer für alles logische Erklärungen. Und solange niemand zu Schaden kam, war das in Ordnung. Zudem hatte sie ein neues Ziel, den Tigerpark.

Vorbei, vorbei an dem pittoresken Häuschen zur linken Seite, die Lerchengasse überquerend und hinein in den Mikro-Park, der ihr stets aufgrund einer allgemeinen Fröhlichkeit positiv auffiel, zumindest war das ihr Gefühl. Tischtennistische, ein Kinderspielplatz, ein Parkareal mit Bäumen. Und auch die Urban Gardening-Anlage am äußeren Rande des Parks wuchs wild-romantisch vor sich hin.


© 2024 Evelyn Blumenau                              < S 2  /  S 3  /  S 4 >                                                            

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